Lange, lange Zeit musste man auf neues Originalmaterial von Marc Almond warten - die zuletzt erschienenen Alben waren ja Coverversionen bzw. Interpretationen (Stardom Road, Heart On Snow) oder Compilations.
Nach seinem schweren Motorradunfall war man ja ohnehin sehr besorgt, ob neben seiner körperlichen auch eine künstlerische Wiederherstellung möglich ist... bei seinen ersten Auftritten danach war Almond noch sichtlich gezeichnet, und auch stimmlich merkte man eindeutig, wie hart er mit den Folgen des Unfalls zu kämpfen hatte.
Das letzte Album mit originalem, also selbstgeschriebenem Material, war "Stranger Things" aus 2001, eine großartige CD, das mit Stücken wie "Glorious", "Come Out", "Under Your Wing" und vielen anderen einen unglaublichen weiteren Meilenstein in Almonds Karriere darstellte.
Almonds Stärke sind seine unvergleichliche Stimme, sein Bekenntnis zum verspielten Kitsch, Offenherzigkeit in seinen Texten, und sein unprätentiöser Umgang mit Romantik, die Gratwanderung zwischen Schlager und Chanson.
Wiederkehrende Motive wie etwa sein autobiographisches "Fun City", dessen Thema sich in vielen späteren Liedern immer wieder auffinden lässt, tragen zum unverkennbaren Stil Almonds bei.
So liegt uns nun also "Varieté" vor, das aktuelle Album, das inklusive einer Bonus-CD in ausgesprochen schöner Aufmachung kürzlich veröffentlicht wurde.
Natürlich ist selbst ein zeitloser Künstler wie Marc Almond auch den allgegenwärtigen Veränderungen unterworfen, und die von vielen als seine wichtigsten befundenen Alben wie "Mother Fist", "Vermine In Ermine", "The Stars We Are" sind unverrückbar Teile seiner Vergangenheit, deren Intensität und Inbrunst in späteren Alben - und wohl auch in Zukunft - kaum mehr erreicht werden.... dessen ist man sich als Fan gewahr, und trotzdem schafft es Almond immer wieder zu überraschen.
Im Intro, das wie eine Aufzeichnung aus alten Zeiten den Auftakt macht, erzählt er uns gleich, in welchem Ambiente das Album stattfindet:
All I need is a glittery curtain
To sing a cheap but potent song
On a small wooden stage
At the back of a bar
That’s where I belong
Oh ja! Das kleine Theater, das Cabarét, die Hafenspelunke - ja, wir sind ganz eindeutig im Varieté, sitzen im samtigen, leicht speckigen Sofa und lauschen dem ältlichen Herrn mit Pierrot-Hut...
Und, ja, der Clown tritt ein ("Bread & Circus") und bietet uns Ablenkung von den schwierigen Zeiten..
So send in the clowns to entertain us
And bring on a little supper to sustain usAll we need is a little bit of bread and circus,
when life conspires to hurt us
Gitarre, Violine und ein swingender Rhythmus begrüßen uns, Marc's Stimme blüht auf, und man glaubt es kaum.... das ist ein Marc Almond, wie man ihn schon lange vermisst hat! Verspielt, variierend, träumerisch und mit bildreichen Lyrics intoniert... es ist eine reine Freude! Mein verdörrtes Herzchen pocht und springt!
"Nijinsky Heart" bringt uns eine Hommage an Vaslav Nijinsky, den Ballettänzer und Choreograph, der durch Verwandlungstechnik, Grazie und Sprungtechnik im späten 19. Jahrhundert beeindruckte - Attribute, die sich Almond vollkommen zurecht aneignet. Seine Vocals drehen wieder Pirouetten wie in seinen besten Zeiten, und versprühen Enthusiasmus und Hingabe.
Es ist kaum zu glauben, Marc Almond springt in diesem Album stilistisch wie von Ära zu Ära, einzelne Lieder könnten direkt von "Mother Fist" stammen ("The Exhibitionist"), andere von "The Stars We Are" - aber nicht falsch verstehen, hier kopiert er sich nicht selbst, euer Rezensent möchte euch hier nur Vergleichsmöglichkeiten geben, manche sind ja nicht so uneingeschränkt in ihrer Almond-Verehrung.
Auch die Instrumentierung ist teils ungewöhnlich, je nach Stück variiert sie - man hört ein Theremin ("My Madness And I"), eine singende Säge auf "The Exhibitionist", auch analoge Synthesizer und weitere behutsam an das jeweilige Stück angepasste sorgfältig ausgewählte Instrumente.
Das Verhältnis zwischen flotten, rhythmischen Nummern zu den balladesken bzw. getrageneren Stücken ist gut gewählt, niemals schleicht sich Langeweile ein, und man steht mit jedem Liede einer neuen kleinen Welt gegenüber.
Die Spannung lässt allerdings ein wenig nach, je länger man das Album hört, wobei das bei 16 Liedern kein Wunder ist - mit Bonus-CD umfasst das gesamte Album immerhin 23 Lieder, was nicht nur eine schöne Zahl ist, sondern dem Hörer Zeit und Muße abverlangt, soviel sei gesagt.
Wer mit Marc Almond generell nicht viel anfangen kann, wird ihn hier sicher nicht plötzlich lieben lernen, Gelegenheitshörer werden darin wohl eher auch keine Ohrwürmer entdecken... am ehesten ist dies ein Album für Almond-Fans, die sein Schaffen schon länger verfolgen.