Als ich den großen Umschlag aufriss, den ich kürzlich in meinem Briefkasten fand, war ich neugierig. Ein freundlicher Leser hatte mir eine Ausgabe der “Sächsischen Zeitung” vom 29. Mai 2012 zugeschickt, in der sich ein längerer Artikel über das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig befinden sollte. Auf der dritten Seite wurde ich fündig, “Es muss richtig schön glänzen” lautete die Überschrift. Ich befürchtete Schlimmes, denn “richtig schön glänzen” ist nichts, was ich mit einem WGT nach meiner Vorstellung in Verbindung bringen würde.
Nachdem ich den Artikel durchgelesen hatte, wusste ich nicht, über wen ich mich aufregen sollte. Waren es Jana und Tom aus Nürnberg, die Autorin Anna Hoben oder einfach die Geschichte, die meinen Unmut erregte? Ich war mir unsicher. Objektiv betrachtet beschreibt der Artikel genau das, was wir gesehen haben, und gibt die Sicht zweier Menschen wieder, die das WGT vielleicht genau so empfinden, wie es ihnen verkauft wird. Sehen und gesehen werden, eine ganze Stadt als Laufsteg der Eitelkeiten. Über wen sollte ich mich also aufregen?
Eine paar Gedanken später spürte ich Resignation, die Lust, den Artikel abzuheften, den Kopf zu schütteln und mich dem Tagesgeschehen zu widmen. “Es wird sich wohl nie ändern…”, schoss mir durch den Kopf. Vielleicht könnt Ihr es auch nachvollziehen, ich will Euch von meinen Gedanken erzählen.
Der Stein des Anstoßes
“Es ist der Tag, an dem Tom zum ersten Mal Latex trägt. Zu Hause saß er schon einmal eine Stunde lang in der Soldaten-Uniform auf dem Sofa. “Danach war ich schweißgebadet.” Latex ist Gummi, da kommt keine Luft durch. Seine Freundin Jana hat Glück: Sie ist Chinesin und schwitzt nicht. [...] Der 28-jährige Tom und Jana, 21, sind zum dritten mal aus Nürnberg zum Wave-Gotik-Treffen nach Leipzig gekommen.”
Genau an diesem Punkt ist bereits die Schmerzgrenze erreicht. Man weiß, was kommt, wie es weitergeht und um was es sich dreht. Hier hört man auf, zu lesen, resigniert und blättert weiter. Und das sind erst die ersten Zeilen dieses Artikels. Doch genau das wollte ich nie, wegschauen, weiterblättern, nichts sagen. Das ist nicht das WGT, das ich kenne, und auch keins, was ich kennen will, und doch ist es da. Und vielleicht sind wir alle ein klein bisschen daran schuld, dass es genau so ist.
“Wochenlang haben sie auf das Wave-Gotik-Treffen hingearbeitet. Vier Kostüme haben sie im Koffer, für jeden Festivaltag eines. Freitag: Alice im Wunderland und Hutmacher. Sonnabend: Latex. Sonntag: Endzeit-Outfit in Braun, mit Gasmasken und Schweißerbrille. Montag: Cyberkluft, Brustpanzer und bunte Moosgummi-Locken.”
Schon die Wortwahl ist treffend. Kostüme. Mit diesem Begriff verbinde ich Verkleidung, die bewusste Entscheidung, den Menschen darunter zu verhüllen und ihm eine Identität zu geben, die seiner nicht entspricht. Wie viele Verkleidungen gab es wohl auf dem WGT zu sehen? Wie oft haben sich Besucher in Kostüme geworfen um dabei zu sein, etwas darzustellen oder Aufmerksamkeit zu erregen? Erstaunlich, dass sich Jana und Tom so wechselhaft zeigen. Offenbar geht es ihnen nicht um Zugehörigkeit oder Identifikation, sondern um das Schlüpfen in andere Rollen. Geht es um Aufmerksamkeit?
“Jetzt wird sich zeigen, ob die Arbeit sich gelohnt hat. Geknipst werden oder nicht, das ist die Frage. Komplimente und Kameraklicks sind über Pfingsten die Aufmerksamkeitswährung in Leipzig. “Ich habe keinen Profilierungszwang”, sagt Tom. Zu Hause im konservativen Bayern sei er froh, wenn er nicht angestarrt werden. Seine Freundin Jana dagegen hat sich an die Blicke gewöhnt: “Frühe haben die Leute blöd geschaut, weil ich Chinesin bin; heute, weil ich so komisch rumlaufe.” “Und weil du Chinesin bist”, sagt Tom. Während des Wave-Gotik-Treffens jedoch genießen beide es, die Blicke auf sich zu ziehen.”
Komisch findet sich Jana und Tom will sich gar nicht profilieren. Ich bin verwirrt. Wie passt das alles zusammen? Der Artikel suggeriert, dass es auf dem WGT nur um das Aussehen geht, weder von Musik noch von Kultur ist die Rede. Doch letztendlich ist es genau dieser Eindruck, der sich einem aufdrängt, wenn man beispielsweise an der Moritzbastei vorbei läuft. Wem also kann man es verübeln, wenn man von der Wahrnehmung auf die Inhalte schließt? Es wird deutlich, dass das WGT eine Oberfläche hat, die glänzt. Sie macht es fast unmöglich, in Tiefe zu blicken. Vor allem dann, wenn man nicht bereit ist, das bequeme Boot zu verlassen. Wie war das noch mit dem Lebensgefühl?
“Vor drei Jahren haben sie sich im Internet kennengelernt, durch die Singlebörse “Schwarzes Glück”. Beide waren mit 18 zur Szene gekommen. Heute ist es ein Lebensgefühl, sagt Tom, es passe zu ihm. Warum, das kann er schwer beschreiben. “Es ist einfach in mir drin, als wäre es ganz natürlich.” Im Alltag trägt er meist schwarze Jeans und T-Shirt, als Gothic bezeichnet er sich aber nicht. “Ich mag keine Schubladen.” Er hört nicht nur Gitarrengeschrammel oder Elektromusik, so wie früher, sondern auch Rap oder Oldies. Die meisten seiner Freunde seien “total ungruftig”.”
Ganz offensichtlich ist er kein Gothic, findet seine Freunde aber “ungruftig”. Es fällt mir schwer, die Beweggründe für diese Spiele mit der Verkleidung nachzuvollziehen. Doch dem Leser des Artikels wird ein Bild geboten, das auf die ersten Blicke zutrifft. Erinnert ihr Euch an die glänzende Oberfläche? Was ist, wenn “Gothic” heute als glitzerndes Meer betrachtet wird, in dem sich die Sonne der geheimen Träume der Beobachter spiegelt? Viele Menschen haben Neigungen und Vorlieben, sind aber nicht willens oder in der Lage, dies für sich auszuleben. So beobachten sie, knipsen für das Fotoalbum und wünschen sich vielleicht sogar, dabei zu sein. Einige möchten selbst einmal wie Tom oder Jana sein und sich dem Reiz des “Abnormalen” hingeben und träumen vielleicht davon, nochmal so jung zu sein, um die Outfits tragen zu können. Eines Tages werden wir dann sogar selbst fotografiert, so wie Jana und Tom.
“Am Festival-Eingang stehen die Normalos. “Schön langsam und abseits laufen, damit die Leute uns in Ruhe fotografieren können”, raunt Tom seiner Freundin zu. Die Strategie wirkt: Die Fotografen stürmen von allen Seiten herbei. Tom reckt das Kinn nach oben, Jana verzieht ihre Lippen zu einer Ahnung von einem Lächeln. Die Posen haben sie tausendfach geübt.”
Quo Vadis, WGT?
Mit Gothic hat das nichts zu tun. Viel schlimmer noch: Es ist doch eigentlich das, was die Szene seit ihren Wurzeln ablehnt. Die bunte Oberfläche. Viele Szene-Anhänger lehnen die Einordnung als “Gothic” ab. Vielleicht weil das, von dem wir uns distanzieren wollten, uns längst eingeholt hat.
Die Arroganz, die der Szene einst nachgesagt wurde, schlug in ein Verlangen nach Akzeptanz um und ist nun einer allumfassenden Toleranz gewichen. Jeder soll sich ausleben, Individualität wird großgeschrieben. Gierig nahm die Szene alles auf, was interessant erschien, und integrierte es in die schwarze Subkultur.
Man wollte Gerüchte um dunkle Machenschaften ausräumen: Schwarze Messen, Satanismus und Grabschändungen? So was gibt es bei uns nicht. Wir sind harmlos. Was wir dann machen? Gute Frage! Das WGT ist die chronologische Manifestierung dieser Einstellung. Erst abgelehnt und kritisch beäugt, kämpfte man um Anerkennung, nach Beachtung als kulturelles Ereignis. Konsequent räumte man Vorurteile aus und Klischees wurden bedient, um es leichter greifbar zu machen. Ein breiteres Angebot, mehr Besucher, mehr Beachtung. Quo Vadis, WGT?
Es ist offensichtlich, dass das zentrale Ereignis der Schwarzen Szene in zwei große ideologische Lager aufgespalten ist. Während die einen dem Sehen und gesehen werden fröhnen, möchten die anderen ihre Ruhe mit Freunden genießen und das in sich aufnehmen, was auf dem WGT abseits der großen Plätze geboten wird. Man findet schwarze Kunst und Kultur in einer unglaublichen Dichte. Jede Ausstellung und Lesung lädt dazu ein, sich zu entschleunigen und ins Gespräch zu kommen.
Vielleicht sollten wir uns wieder eine gewisse Intoleranz aneignen, eine gesunde Skepsis gegenüber neuen Entwicklungen und eine deutliche Grenze zwischen dem ziehen, was erwünscht und dem was unerwünscht ist. Es gibt sie noch, die Szene. Auch auf dem WGT. Wir müssen schützen, was uns wichtig ist, und nicht resigniert den Kopf wegdrehen. Fotografieren? Ja, aber nicht mich. Der Kampf um Akzeptanz ist gewonnen, Gothic ist Mainstream. Kaum jemand konfrontiert uns mehr mit Vorurteilen, weil wir es geschafft haben, jedes einzelne auszuräumen. Eigentlich laufen wir nur komisch rum und lassen uns vorführen wie die Tiere im Zirkus. Wollten wir das?