Wenn man zu zweit im Auto sitzt und trotzdem alles voller Gepäck ist, dann handelt es sich unter Umständen um eine Anreise nach Leipzig zum WGT ☺ Auch wenn ich selbst dieses Mal eher unschuldig an der Gepäcklage war, so scheint diese, beobachtet man die Anreisenden am Pfingstdonnerstag beim Einzug in ihre Hotels und Hostels, durchaus mehr die Regel als die Ausnahme zu sein. Nach wie vor will man in Leipzig gesehen und auf alles vorbereitet sein – mit entsprechendem Styling und Ausrüstung. Blickt man auf die Diversität der Veranstaltungen, so wird dies durchaus nachvollziehbar: Auch dieses Jahr war das Angebot breit genug für Mittelalterfans, Metaller, Old-School-Goths, Neoromantiker, Neofolker oder Elektronics. Trotz dieser bunten Vielfalt wird Leipzig ab Donnerstag Nachmittag nach wie vor schwarz und schwärzer – und obwohl den LeipzigerInnen diese Veränderung ihres Stadtbildes mittlerweile schon altbekannt ist, ist die Frequenz, mit der verwunderte TouristInnen bei den Einheimischen Auskunft einholen, meist ziemlich hoch („Was ist denn da los?“ – „Das ist so ein Festival, man hört Musik und macht sich hübsch.“ „Aber warum denn in schwarz?“ „Ja, äh…“).
Ein kurzer Rückblick auf einige Programmpunkte und Highlights des WGT 2012.
Blaue Stunde
Die Blaue Stunde ist nicht nur ein poetischer Begriff für die Zeit der Dämmerung zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit sowie für die Zeit kurz vor Sonnenaufgang, sondern auch eine Veranstaltung eines Kollektivs aus Leipzig, das atmosphärische Veranstaltungen für TräumerInnen und DunkelromantikerInnen organisiert. Obwohl ich mir nie sicher bin, ob ich mich eigentlich zur Spezies der DüsterromantikerInnen zählen darf, ist die Veranstaltung am Donnerstag ein guter WGT-Auftakt (ebenso findet eine montags statt). Sie findet an einer Wiese unweit des AGRA-Geländes statt, Beleuchtung und Blitzlichter gibt es hier keine, dafür aber viel natürliches Licht (Grabkerzen, naturellement), Fackeln und jede Menge gute Musik. Übrigens handelt es sich bei der Färbung des Himmels zur Blauen Stunde um einen anderen physikalischen Prozess als beim Tagesblau: Sie beruht (vollständig zur Dämmerung, zum einem Großteil beim Sonnenuntergang) auf dem speziellen Absorptionsverhalten des Ozons: der düsterromantisch blaue Himmel wird also vor allem durch das Vorhandensein der Ozonschickt über dem Erdboden verursacht.
Viktorianisches Picknick
Die Wettergöttin war dem Outdoor-Picknick dieses Jahr besonders gut gesinnt: Ab 15.00 versammelten sich auch dieses Jahr hunderte BesucherInnen im König-Albert-Park zum Viktorianischen Schmausen, Trinken und vor allem Plaudern. Die Kleiderordnung hier ist breit: Steampunk, Barock, Rokoko, elegante Lolita oder romantische Gothics sind gerne gesehen. Stylepolizei gibt es keine, dennoch sieht man hier mitunter die schönsten Kostüme des Festivals (an teilweise noch unverbrauchten BesucherInnen). Kommt gut an: Mitgebrachte Plastik-Weingläser, Met und frische Früchtchen. Kommt nicht so gut an: Picknickdecken anderer BesucherInnen mit Wein bekleckern. ☺
In Slaughter Natives
In Slaughter Natives ist eine schwedische Industrial bzw. Dark Ambient Band, die schon seit Mitte der 80er existiert und auf Cold Meat veröffentlicht. Das Projekt um Jouni Havukainen (auf der Bühne mit Technikerin Kathleen Binder) ist für symphonische und martialische Sounds bekannt. Zum Besten gegeben wurden Stücke aus den vergangenen zwanzig Jahren – Show gab es wenig – was aber auch nicht weiter notwendig ist, wenn die Musik spricht. Die beiden standen auch am Samstag noch einmal mit Hekate im Felsenkeller auf der Bühne.
Dunkelromantischer Tanz
Diese Veranstaltung wechselt meist den Standort – dieses Jahr fand sie im Städtischen Kaufhaus statt. Am Samstag versorgten die DJs Lisa Morgenstern und HER Only Sin sowie Remo Sorge das Publikum mit klassischen, dunkelromantischen Klängen, wobei zwischendurch von mal zu mal ein Hauch Neofolk drübergestreut wurde. Hier bleibt zu hoffen, dass die Veranstaltung wieder in eine der anderen, in Leipzig durchaus vorhandenen, atmosphärischen Keller-Locations umzieht – denn das Kaufhaus war hierfür fast ein wenig zu steril. Positiv anzumerken war aber der Kuchen-/Kaffee- und Würstchenstand mit der überaus freundlichen und geduldigen Leipziger Bedienung.
Jännerwein, Ordo Rosarius Equilibrio
Die Salzburger Jännerwein spielten bereits 2009 am WGT und konnten schon damals eine kleine Fangemeinde um sich scharren. Aus der Kategorie „oft gesehen, immer wieder gut“ legten die Folker auch dieses Mal ein sourveränes Konzert hin – wenn man denn auf alpine Halstücher und fesche Recken aus dem Salzkammergut steht. Als Gast kam schießlich Thomas Bojden von Die Weiße Rose zu „My Prime of Youth“ auf die Bühne, auch das ein oder andere neue Stück gab es zu hören. Nach einem etwas unspektakulären Auftrifft von Ordo Equitum Solis (ob man die nur aufgrund der Namensähnlichkeit vor die nächste Band gepackt hatte?) freute man sich auf Ordo Rosarius Equilibrio.
Ich hatte die Band vor sechs Jahren noch im Anker bei den klassischen Neofolk-Sonntagen gesehen, damals mit blonder Background-Tänzerin aka Rose-Marie Larsen (die auch dieses Mal mit auf der Bühne stand). Background-Tänzerinnen bzw. eine kleine Burlesque-Show im Hintergrund gab es auch dieses Mal, in Form von zwei Damen in Uniformen, die sich vor mehr oder weniger eindeutigen Hintergrundvideos gegenseitig halb entkleideten und den/die BetrachterIn etwas unsicher ob der Frage zurückließen, ob die Betonung von Sex und Erotik, die der Band zwar seit jeher inne ist, in ihrer plakativen Visualität nicht doch ein wenig auf Kosten der inhaltlichen Tiefe geht. Dennoch ein durch und durch stimmiges Konzert einer Apocalyptic Folk-Band mit „Corporate Identity“.
Obsession Bizarr – Volkspalast
Dass beim diesjährigen Fetischtreffen die Kantine als Tanzbereich offen war sowie einige kleine Showacts (Voodoo-Menschen) herumliefen, fiel positiv auf. Kommt man um ca. 22 h zum Veranstaltungsort, kann man auch die allseits gefürchteten langen Warteschlangen umgehen. Insgesamt ist, trotz der harschen Kritik an der gefürchteten Style-Polizei, die den Dresscode kontrolliert, das Treffen eine gute Möglichkeit, etwas düstere Fetisch-Luft zu schnuppern und mit ein wenig Aufwand sollte auch jede/r in den Volkspalast zugelassen werden. Musikalisch wurde ein Mix aus tanzbarem Gothic, 80ern, Elektro und Industrial geboten – mit zwischendurch schon fast vergessenen alten Gruft-Klassikern (z.B. Pre-18 Summers aka Silke Bischoff).
Als der Südfriedhof mein Wohnzimmer war – Gruftis in der DDR und Lesung „Schillerndes Dunkel“
Die Ausstellung im Büro des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen war liebevoll organisiert. Neben der permanenten Sport-Ausstellung (SportlerInnen in der DDR geben durch teilweise biografische Erzählungen Einblicke in Doping, Flucht und Rufmord-Szenarien) konnte man den kurzen Dokumentarfilm „Unsere Kinder“, der Jugend-Subkulturen in der DDR darstellte, betrachten. Die angekündigte Führung selbst konnte leider nicht nach Plan durchgeführt werden, da man von Seiten des Archivs nicht mit so vielen BesucherInnen rechnete („Wer dachte denn, dass die Gruftis so geschichtsinteressiert sind?“).
Trotzdem standen genügend MitarbeiterInnen des Hauses den BesucherInnen bei jeder Station Rede und Antwort. Neben dem „größten Puzzle der Welt“ bestehend aus Stasi-Akten lag ein Schwerpunkt auf den sogenannten „toten Briefkästen“ sowie den Hintergründen zur Arbeit der „IMs“ (Inoffizielle/r MitarbeiterIn) in der DDR. Im Treppenhaus hatte man außerdem eine Sonderausstellung angebracht, die das Thema Gruftis in der DDR behandelte. Hierbei wurde vor allem zweierlei deutlich: Zum einen die (auch quantitativen) Veränderungen dieser Subkultur seit den 80ern (als „negativ-dekadente Jugendliche und SympathisantInnen“ wurden damals nicht mehr als ca. 40 in deutschen Großstädten eingestuft), zum anderen die Vorurteile, die von Stasi-MitarbeiterInnen oder anderen Zeitzeugen aufgezeichnet wurden (der/die Grufti, der Gräber aushebt und in Särgen schläft sowie auf Friedhöfen seine Orgien feiert, kommt in den Informationen der Stasi aus 1967 durchaus vor).
Ein weiteres Highlight war die Lesung und das Gespräch „Schillerndes Dunkel“, bei der Herausgeber Alexander Nym und Alexander Pehlemann (Zeitzeuge, Musikjournalist und DJ) über ehemaliges Selbstverständnis der Szene und das Thema der Ausstellung sinnierten. In Zeitzeugenberichten mit dem Publikum diskutierte man über Lebensgefühl der Szene, KünstlerInnenverfolgung und politische Bands der Vergangenheit (z.B. „Die Firma“, bei der zwei Mitglieder auch als IMs arbeiteten – hier zählte wohl das Argument, dass bestimmte Dinge erst durch das DoppelagentInnen-Dasein ermöglicht wurden; oder die Punk-Band aus der frühen Berliner Szene „Ornament und Verbrechen“).
Ob es sinnig wäre, sich wieder „action“- Kosmetikfarbe zuzulegen, Wimperntusche ins Haar zu geben oder sich mit Fußpilzmittel die Haare zu färben? Oder wäre es u.U. Zeit für eine Warschauer-Pakt-Uniformierung innerhalb der Szene? Und was hat die Sicherheitsnadel mit der Staatssicherheit zu tun? Die ZuhörerInnen und Diskutierenden konnten hier sicherlich einige neue Fakten und Inspirationen mit nachhause nehmen, die die Veranstalter anhand von Lesungen aus dem Buch „Schillerndes Dunkel“ und Projektionen eigener Bilder aufwarfen.
Näo
Näo waren definitiv meine Überraschungsband und Entdeckung aus 2012 – und die Atmosphäre in der Kuppelhalle sowie das Feedback vieler BesucherInnen ließ darauf schließen, dass es einigen so ähnlich ging. Schon die ersten Klänge der drei Franzosen machten deutlich, dass hier eine Band mit viel Spaß am Werke ist, die in ihrer Musik aufgeht. Ruhige Klangflächen wechselten sich hier ab mit treibenden Gitarren und kräftigem Schlagzeug. Headbanging, Keyboard-Schwingen und viel Tanz im Publikum inklusive. Wir plünderten hinterher den CD-Stand und waren uns einig, dass ein Abschlusskonzert besser nicht hätte sein können. Empfehlung!
For something completely different and still Goth: Nietzsche-Wanderweg und Höllental
Für Auto-Anreisende, die durch Bayern fahren, ist dies ein kleiner Wander-Tipp: Der Nietzsche-Wanderweg befindet sich bei Chammünster (über Cham) und kann mit keltischen Sehenswürdigkeiten (Teufelssteine, Marterpfahle, Schwarze Brunnen, Teufelsfüße…) aufwarten. Ebenfalls hohen Goth-Faktor hat aufgrund des Namens das Höllental im Frankenwald (über Naila): Hier sind u.a. Wassertürme, ein Hirschsprung, diverse Höhlen und die ehemalige Höllentalbahn zu bewandern.
Fotos: Judy, Eraserhead