Da glaubt man spät zu kommen, dabei wird es eine Stunde zu warten geben, bis nicht bloß der Saal sich einigermaßen gefüllt hat – ob Tocotronic im großen Raum vis-a-vis mehr Umsatz machen? Es scheint Tradition zu werden im letzten halben Jahr, dass die Vorbands ihren Weg in die Arena nicht finden – die Ankündigung, dass die Stürme zum Ausgleich länger nicht fliehen, scheint durchaus zu entschädigen.
Die Lieder des zu promotenden Albums „Die Tiere schweigen“ werden nahezu unauffällig ins Publikum geschleust, sie fügen sich in eine Riege von Liedern, die einem schlicht bekannt vorkommen. Von zehn vor zehn bis zehn vor zwölf bricht die geballte Ladung voll unglücklicherweise sogenannten Depropunks los.
Ein Intro wird angestimmt.
„Wir könnten überall hin. Wir bewegen uns nicht“: ein neues Lied: „Sirenen“. Da stehen so ehrlich und wie erwartet zwei Glatzköpfe Andreas Löhr und Stefan Kniehl, hinter dem Schlagzeug Jens Halbauer in T-Shirt, Hemd, Hose – da ist nichts anderes zu erwarten, und was will man mehr? Das Schlagzeug ist transparent und schick.
Gleich geht es mit „Chaos brütet“ weiter.
24 Songs durchziehen das vorerst verhaltene scheinbar typisch wienerisches Publikum mit einer Gitarrenwand, die doch nur aus E- und Bass- besteht und immer funktioniert.
Über die technische Wiedergabe des Gesangs ist der kleine Raum der Arena erneut zu beklagen – verstehbar nur im Refrain, wenn beide Männer an der Front verstärkt schreien; die Texte würden wir doch gern verstehen – selbst wenn wir sie kennen sollten. So leicht flutschen sie an einem vorbei, was nie heißt, dass die Songs ungewollt eintönig wären. Mag es an der hypnotischen Soundstruktur liegen, wie sie live noch simpler als auf Tonträger ankommt und dadurch vielleicht noch stärker wirkt. Die Übergänge passen da immer, die Lieder vom letzten Album „Die Tiere schweigen“ fügen sich nahtlos ein. Selbst, falls man mit den Stürmen nicht zu gut vertraut ist, wird man immer mehr als ein Lied zu erkennen glauben.
In ihren Liedern, oder seien es die Herrn Löhrs, steht die Welt immerzu auf der Kippe, und sie selbst interpretieren sie auf einer Klippe, von der ein Schritt in den jähen Absturz führen möchte. Die Welt ist kalt, das Wunschbild zerstört, Beziehung vergangen, Verstörung bleibt, Menschen maschinenwärts getrimmt, die Heimat nicht wiederherstellbar. Alles ist schon ‚so lange her’, das Ich findet sich in einer Zeit, die ihm nicht gefällt (um eine typische Textzeile zu zitieren); „vielleicht“ ist es „zu früh gebor’n“. Lied Nummer 6: „Alles falsch“.
Im Grunde will nichts besser zu dieser brachial einfachen Sehnsuchtshaltung passen als eine röhrende Stimme wie aus zweiter Hand. In dem vielen Zweifeln, Klagen steckt manches Liebeslied.
Erst mit dem siebenten geht ein bisschen Pogo los – nicht, dass ich es vermisst hätte! Die Leute sind trotz steigendem Alkoholkonsum recht freundlich, wenn auch ein Bierdieb in der vordersten Reihe umgeht; es gibt Entschuldigungen fürs Anstoßen, so was hört man sonst selten.
Das Gegenteil von Pogen scheint das Wogen, da alle sehr höflich sind, sofern sie sich regen, ein junger Mann zwar von Security aus dem Raum befördert wird. Andere halten sich an den Lautsprechern fest.
Und der innigste Fan steht rechts von der Bühne, die junge Frau, die sich leise wiegt und die Lieder sämtlich mitsingt?
Ein erwarteter Höhepunkt: „Maschinentrauma“, wobei durchaus eingespielte Elektronik zum Einsatz kommt, insgesamt spärlicher als auf CD.
Dann doch ein Tempowechsel: „Vergiss die Ewigkeit, vergeude die Zeit, die dir noch bleibt“: „Umarmung“ – manche besinnen sich da jüngster Davongänge. Andere nutzen solche Eindrücke zu einem Kuss. Offenbar darf man bei einem intensiven Konzert nie bloß auf das Bühnengeschehnis achten.
Suggestible Refrains wirken, ich will nicht sagen einhämmernd - das wirkte negativ, aber stetig mit Ultimativität operierend. „Es sind schwierige Zeiten, die Zeichen stehen auf Sturm“. Genau, was ich als Fünfzehnjähriger gebraucht hätte und (zer-)“springen“ mochte … aber man hat ja Erinnerungen, und interessanterweise bleibt mehr Effekt als Sentimentalität zu verspüren.
Zwei Leute im Publikum wollen ständig „Satellit“ hören. Lied Nr. 12 erfüllt ihren Wunsch. Am Ende gönnt Herr Löhr sich und uns noch ein Gitarrensolo.
Wie gesagt, 24 Lieder, falls ich recht mitgezählt habe, in genau zwei Stunden – auf die Zugaben müssen sie sich einigen, sie spielen ja länger als geplant, es wird ihnen gedankt. Sie gehen bescheiden, wie sie auf ihre Weise sind, mit einem „Tschüß“.